Zeitzeugin im Volucap © Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, Foto: Jakob Grasböck

Geschichts­ver­mitt­lung durch Vir­tu­al Reality

Das VR-Pro­jekt „In Echt? – Vir­tu­el­le Begeg­nung mit NS-Zeitzeug:innen“

Wenn Holo­caust-Über­le­ben­de von ihren Erfah­run­gen berich­ten, tun sie das häu­fig bei Ver­an­stal­tun­gen, auf Ein­la­dung von Schu­len oder erzäh­len vor TV-Kame­ras. Aber: Mehr als 78 Jah­re nach dem Ende des Nazi-Regimes wer­den es immer weni­ger Zeitzeug:innen, die uns aus ers­ter Hand von den Schre­cken berich­ten. Nicht nur für Historiker:innen stellt sich die Fra­ge: Wie ver­mit­teln wir den jun­gen Gene­ra­tio­nen, was damals geschah und nicht wie­der gesche­hen darf? Immersi­ve Medi­en wie Vir­tu­al- oder Aug­men­ted Rea­li­ty-Anwen­dun­gen bie­ten eine Chan­ce, sich der Erin­ne­rungs­kul­tur neu zu nähern. Ein beson­de­res Pro­jekt, das ab Ende August an ver­schie­de­nen Orten Bran­den­burgs ange­schaut wer­den kann, ist „In Echt? – Vir­tu­el­le Begeg­nung mit NS-Zeitzeug:innen“ – ent­stan­den durch eine Koope­ra­ti­on der Bran­den­bur­gi­sche Gesell­schaft für Kul­tur und Geschich­te (BGK) mit der Film­uni­ver­si­tät Babels­berg KON­RAD WOLF und finan­ziert mit den Mit­teln der Stif­tung EVZ – Erin­ne­rung, Ver­ant­wor­tung und Zukunft. Für die tech­ni­sche Bear­bei­tung, Ren­de­ring und Daten­ma­nage­ment wur­de das Volu­cap beauf­tragt. Dort wur­den bereits in einem Vor­gän­ger­pro­jekt die volu­me­tri­schen Roh­da­ten der Inter­views auf­ge­zeich­net.   

„In Echt…?“ ist ein bun­des­wei­tes Pilot­pro­jekt, das hof­fent­lich Anknüp­fungs­punk­te auch im inter­na­tio­na­len Kon­text haben wird. Denn das Pro­blem des auf­flam­men­den Anti­se­mi­tis­mus, Ras­sis­mus und Frem­den­feind­lich­keit ist kein spe­zi­fisch bran­den­bur­gi­sches (oder deut­sches) Pro­blem. Hier authen­ti­sche Zeitzeug:innen zu hören und zu sehen, die ihre trau­ma­ti­schen Erfah­run­gen aus ers­ter Hand erzäh­len, ist ein sehr wesent­li­cher Zugang zu einer per­sön­li­chen Erfah­rung von his­to­ri­schen Ereig­nis­sen. Wenn jedoch die­se Zeitzeug:innen nicht mehr da sind, ist es umso wich­ti­ger die „Leben­dig­keit“ ihrer Erzäh­lun­gen zu behal­ten.“, erklärt Dr. Kata­lin Kraszn­ahor­kai, Kura­to­ri­sche Lei­tung, Bran­den­bur­gi­sche Gesell­schaft für Kul­tur und Geschichte.

Volu­me­tri­sche Zeitzeug:innen-Interviews

Holocaust-Zeitzeug:innen wie Inge Auer­ba­cher, Leon Weint­raub, Ruth Win­kel­mann, Kurt Hill­mann und Char­lot­te Knob­loch, alle in ihren 80. und 90. Lebens­jah­ren, reis­ten im Jahr 2021 nach Babels­berg, um sich inter­view­en zu las­sen. Sie mach­ten dabei selbst eine gänz­lich neue Erfah­rung: plat­ziert im volu­me­tri­schen Stu­dio von Volu­cap in einer wei­ßen Kup­pel, bestückt mit zahl­rei­chen Kame­ras. Doku­men­tar­film-Regis­seur Chris­ti­an Zip­fel, der das Pro­jekt von Sei­ten der Film­uni­ver­si­tät künst­le­risch und kon­zep­tio­nell betreu­te, inter­view­te sie. Um die wesent­li­chen Aspek­te ihrer Lebens­ge­schich­te dar­stel­len zu las­sen, hat­te er eine begrenz­te Auf­zeich­nungs­zeit von etwa einer Stun­de. Anders als bei TV-Doku­men­ta­tio­nen, bei denen man die Inter­view­ten meh­re­re Stun­den erzäh­len und aus dem Mate­ri­al ein Inter­view geschnit­ten wird, muss­ten sich hier die Lebens­er­zäh­lun­gen auf das Wesent­li­che konzentrieren. 

Das lag an den enor­men Daten­men­gen, die die volu­me­tri­schen Auf­nah­men for­dern. Sven Blie­dung von der Hei­de, CEO von Volu­cap, erklärt im Gespräch: „Die Auf­lö­sung unse­res Stu­di­os ist welt­weit füh­rend, wir kön­nen mit 3.000 Mega­pi­xeln auf­zeich­nen. Das sind immens vie­le Daten. Die Spei­che­rung und Ver­ar­bei­tung von etwa fünf Minu­ten Mate­ri­al ist ver­gleich­bar mit der Daten­men­ge aller Bücher der Welt. Die­se Daten wol­len nicht nur gespei­chert, son­dern auch ver­ar­bei­tet wer­den.“ Eine Her­aus­for­de­rung, auch für das Team von Volu­cap, die mit ihren volu­me­tri­schen eher Sequen­zen von eini­gen Minu­ten für Fil­me, Video­clips oder Games beisteuern.

Neu­es Her­an­ge­hen an Erinnerungskulturen

Auch die Ästhe­tik, mit der hier erzählt wird, ist eine ande­re. In der spä­te­ren VR-Anwen­dung bleibt der wei­ße Raum des Stu­di­os erhal­ten. „Uns war wich­tig, dass die Auf­nah­me­si­tua­ti­on aus einem doku­men­ta­ri­schen Blick­punkt trans­pa­rent bleibt.“, so Pro­fes­sor Björn Stock­le­ben, der als Pro­jekt­lei­ter „In Echt?“ auf Sei­te der Film­uni­ver­si­tät lei­tet. „Im Vor­gän­ger­pro­jekt haben wir mit auf­wän­dig digi­tal rekon­stru­ier­ten Orten in The­re­si­en­stadt gear­bei­tet, um die Schil­de­run­gen der Zeit­zeu­gin Mar­got Fried­län­der visu­ell zu kon­tex­tua­li­sie­ren. Dies­mal rich­ten wir den Fokus auf die unmit­tel­ba­re Prä­senz der Erzäh­len­den und stel­len daher die volu­me­tri­schen Auf­nah­men allein ins Zentrum.”

Das Team der Film­uni­ver­si­tät hat auch die dazu­ge­hö­ri­ge VR-Anwen­dung ent­wi­ckelt. Um den Inter­view-Inhal­ten gerecht zu wer­den und gleich­zei­tig wich­ti­ge Aus­schnit­te anbie­ten zu kön­nen, ließ man in einem Work­shop Schüler:innen der 9. Klas­se der Pots­da­mer Vol­taire­schu­le Tran­skrip­te der Inter­views bewer­ten und die für sie emo­tio­nals­ten, span­nends­ten und wich­tigs­ten Stel­len her­aus­such­ten. Jugend­li­che zäh­len zur wich­tigs­ten Ziel­grup­pe des Pro­jekts. „Es war sehr span­nend zu sehen, wie medi­en­sen­si­tiv die Schüler:innen waren und wie reflek­tiert sie mit den tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten und der Kom­ple­xi­tät des The­mas umge­gan­gen sind.“, berich­tet Dr. Kata­lin Krasznahorkai. 

Dank Video­spiel­wel­ten und omni­prä­sen­tem Smart­phone sind sie ande­ren Medi­en­kon­sum gewöhnt. „Wir ken­nen die Zeitzeug:innen noch aus dem zwei­di­men­sio­na­len Fern­se­hen. Eine Dar­stel­lung, die in der heu­ti­gen Zeit alt­mo­disch wirkt. Mit VR-Bril­len ergibt sich viel mehr Inter­ak­ti­on. Man hat hier das Gefühl, die Per­son steht vor einem.“, ergänzt Blie­dung von der Hei­de von Volu­cap. Wich­tig war aber allen Betei­lig­ten, dass die Tech­nik nicht von den Erzäh­lun­gen der Holo­caust-Über­le­ben­den ablenkt. „Die Ver­mitt­lung des The­mas ist die wich­tigs­te Auf­ga­be – nicht der Anspruch medi­al so immersiv wie mög­lich zu sein.“, bestä­tigt auch der Regis­seur Chris­ti­an Zipfel.

Die Aus­stel­lung „In Echt?“

Ab Ende August wer­den die Auf­nah­men in der Aus­stel­lung „In Echt?“ an ver­schie­de­nen Orten Bran­den­burgs gezeigt, neben Pots­dam auch in Wittstock/​Dosse, Kyritz, Pritz­walk, Jüter­borg, Cott­bus und Fins­ter­wal­de. Die Bran­den­bur­gi­sche Gesell­schaft für Kul­tur hat zusam­men mit einer Agen­tur eine beglei­ten­de Aus­stel­lung geschaf­fen, die vie­le Zusatz­in­for­ma­tio­nen bie­tet. Ihnen ist es beson­ders wich­tig, Zugän­ge zu die­sem For­mat und die vir­tu­el­le Begeg­nung mit der NS-Zeit­zeu­gen­schaft an regio­na­len und länd­li­chen Orten jen­seits der Groß­städ­te zu bie­ten, wo es drin­gend not­wen­dig sei. 

In der Aus­stel­lung betre­ten die Besucher:innen mit­tels VR-Bril­le den digi­ta­len Raum, in dem vor ihren Augen zehn Fra­gen schwe­ben. Sie befas­sen sich in chro­no­lo­gi­scher Rei­hen­fol­ge mit den Novem­ber-Pogro­men bis hin zu einem Aus­blick auf rech­te Ten­den­zen der heu­ti­gen Zeit, dar­un­ter auch zur AFD. Per Blick­steue­rung las­sen sich ein­zel­ne Fra­gen anwäh­len. Im nächs­ten Schritt ver­schwin­det das Inter­face und man steht dem lebens­ech­ten Scan einer/​einem der fünf Holocaust-Zeitzeug:innen gegen­über, die eine vor­ab auf­ge­zeich­ne­te sub­jek­ti­ve Ant­wort gibt. In der Anwen­dung begeg­net man den Per­so­nen auf ver­schie­de­ne Fra­gen hin mehr­mals – das sei auch wich­tig, um eine gewis­se Bin­dung zu den Dar­ge­stell­ten auf­zu­bau­en und nicht eine unüber­schau­ba­re Anzahl von Inter­view­parts zu kon­su­mie­ren, so Regis­seur Zipfel.

Neben der aktu­el­len Aus­stel­lung, die am 29. August im Haus der Bran­den­bur­gisch-Preu­ßi­schen Geschich­te in Pots­dam eröff­net wird, ist so ein umfang­rei­ches Archiv mit Zeitzeug:innen ent­stan­den. „Wie reagie­ren Schüler:innen, Student:innen, Multiplikator:innen oder auch nur vor­bei­lau­fen­de Besucher:innen auf die­se Mög­lich­keit, in einer VR-Bril­le sich mit Zeitzeug:innen und ihren Geschich­ten aus­ein­an­der­set­zen zu kön­nen?“, ist eine der Fra­gen mit der wir das Pro­jekt über die kom­men­den Mona­te beglei­ten, so Dr. Kata­lin Kraszn­ahor­kai. Für die BGK beglei­tet die Film­uni­ver­si­tät die wis­sen­schaft­li­che Eva­lua­ti­on des Pro­jekts und dar­über, wie sich Erin­ne­rungs­kul­tur in ihrer Ver­mitt­lung ver­än­dert und wie sich die Erfah­run­gen der Zeitzeug:innen auch für spä­te­re Gene­ra­tio­nen leben­dig hal­ten lassen. 

Image Cre­dit: Zeit­zeu­gin im Volu­cap © Film­uni­ver­si­tät Babels­berg KON­RAD WOLF, Foto: Jakob Grasböck

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